2. Brief von XT41 – die Stimme

XT42 geht es wieder etwas besser. Sie haben sie heute in Ruhe gelassen. Nur kurz abgeholt und das gemacht, was sie „Untersuchen“ nennen. Ihr Mäulchen tut immer noch weh. Und sie musste sich heute morgen am Po gut saubermachen, weil da war etwas Rotes.
Heute bevor es draußen hell geworden ist, war es auf einmal ziemlich laut. Alle sind in die Außenzwinger gerannt und haben gebellt. Auch Xt42 und ich. Aber keiner von uns wusste, warum wir bellen. Die mit dem Schmerzen-Mach-Raum kommen erst, wenn es schon hell ist. Die waren nicht da. Aber es waren welche da, keine Tiere. Es war so laut. Uns macht das Angst. Ich habe versucht, mich mit der Nachbarin auf der anderen Seite, im nächsten Zwinger, darüber zu unterhalten. Sie sagt, was von Denen kommt, wird immer am Ende Schmerzen machen. Da ist es nicht wichtig, ob es draußen dunkel ist oder hell. Aber irgend etwas passiert hier.

XT42 und ich denken manchmal an den zurück, der vorsichtiger mit uns war, und bei dem wir gefühlt haben, dass der das gar nicht machen will, was der macht. Wo der nun ist? Ob der auch in dem Raum hängt wo sie die toten Hunde aufhängen? Einer von denen hat einmal zu einem anderen darüber gesprochen, dass alle, die hier nicht mehr gebraucht werden, irgendwann dort hängen, das sei halt so. Dann hängt der da jetzt wahrscheinlich auch. Was schade wäre, denn wir Tiere brauchen ihn eigentlich schon. Denn er war so viel freundlicher zu uns. Ich glaube, der gehörte zu einer anderen Rasse von Denen. Einmal hat er mich auf dem Schoß gehabt, und mein Ohr gekrault, und leise „XTchen“ zu mir gesagt. Das war so eine liebe Stimme.

Die waren heute nervöser als sonst. Sie haben etwas von einer Feuertonne erzählt und dann war einer kurz bei uns und hat alles angekuckt, und war dann schnell wieder weg. Vor dem hatten die Anderen Angst. Der hatte wenig Fell auf dem Kopf und roch nicht nach Angst, und Blut, Schweiß, und solchen Sachen. Und der war ziemlich hektisch.
Das bedeutet nichts Gutes, sagte X42, als der wieder weg war.

Als die alle weg waren und es ruhig wurde bei uns, habe ich mich draußen hingelegt. Es ist kalt da draußen. Aber es riecht so gut. Und wenn man die Augen zu macht kann man träumen. Ich habe davon geträumt, auf einmal ohne Gitterstäbe vor den Augen sehen zu können. Ich habe davon geträumt, etwas aufzuheben mit dem Schnäuzchen und dann einem von Denen zu bringen, und dass der sich dann gefreut hat. Dann bin ich aufgewacht und habe überlegt: Wie soll so etwas gehen? Die wollen sicher nichts haben, was ich ihnen bringe, und freuen sich nie, egal was ich versuche.

Dann bin ich wieder eingedöst. Mit meinen großen Ohren halb über den Augen. Und dann war da eine Stimme.
„Du, XT41, bitte erschrick nicht.“
Ich habe mich erschreckt und war ganz starr.
„XT41, darf ich kurz mit Dir sprechen?“

Ok, also, ich habe niemanden gesehen. Und XT42 und die anderen auch nicht, die haben nicht mal etwas gehört. Ich habe gedacht: „Ja, also, wer spricht denn da?“
Das hat derjenige wohl gehört, obwohl ich es nur gedacht habe. Merkwürdig, denn er antwortete: „Ich bin Andreas. Eine Frau sitzt hier neben mir. Sie hat Dein Bild im Internet gefunden. Und will unbedingt, dass ich Dir etwas von ihr sage.“
Das war jetzt wirklich sehr kompliziert für eine Beagle-Hündin, die nur gerade so im Kreis im Käfig laufen kann und durch den Zaun die Bäume nur aus der Ferne sehen darf. Ich versuchte, draußen, im dunklen Wald, jemanden zu entdecken, aber da war niemand.
„Liege entspannt, kleine XT41! Ich weiß, dass das, was gerade passiert, Dir merkwürdig vorkommt. Ich weiß, dass Du versuchst, mich zu sehen. Mit Deinen Augen wirst Du das nicht schaffen. Noch nicht.“

Ja, da hatte dieser Andreas recht. Da war absolut kein Mensch. Sonst hätten die anderen Hunde ja auch gebellt.
„Das verstehe ich alles nicht“, dachte ich. Und wieder antwortete diese Stimme auf meine Gedanken: „Ich weiß, meine Kleine. Bleibt entspannt liegen, mach die Augen zu, und höre und fühle, was passiert…“
Ich legte mich hin und versuchte ganz genau in mich hinein zu hören. Den Kopf auf den Pfoten und die Nase in Richtung Wald.
„Die Frau, die neben mir sitzt, hat Dich sehr lieb. Sie hat Dich auf einem Foto gesehen. Und im Fernsehen. Darf ich ihr sagen, daß Du mir ihr sprechen möchtest?“
Innerlich habe ich wohl irgendwie zugestimmt. Aber keine Ahnung, wie.
„Sie möchte, dass Du weißt, dass sie da ist. Manchmal ist sie ganz in Deiner Nähe. Sie möchte, dass Du weißt, dass sie und viele andere Menschen Dich herausholen werden, da wo Du jetzt bist.
„Ich habe Angst. Immer, wenn sie kommen, mich hier heraus zu holen, dann geht es in den Schmerzen-Mach-Raum“ dachte ich.
„Nein, nicht aus dem Käfig. Ganz heraus. Sie möchte, dass Du bei ihr wohnst. In ihrem Zuhause. Sie möchte Dich füttern, und sie möchte Dich streicheln, wo Du es am liebsten hast, und Du darfst bei ihr aufs Sofa und niemand wird Dir mehr wehtun.“

Ich hob den Kopf kurz hoch. Ein rauchiger Geruch stieg in meine Nase. Sowas riecht man bei uns sonst nicht, aber seit einigen Nächten kommt das ab und zu mit dem Wind.
„Sag, wie fühlst Du Dich, XT41? Hast Du Schmerzen? Hunger? Durst?“
So etwas wurde ich noch nie gefragt. Ich musste wirklich ein wenig grübeln…
„Ich war heute nicht im Schmerz-Mach-Raum.“ Sagte ich. „Und hier ist noch Wasser. Futter dürfen wir nicht in unseren Zwingern haben. Das müssen wir immer gleich fressen. Und da könnte ich schon noch etwas vertragen. Aber XT42 neben mir, der gehts nicht so gut wie mir, das Mäulchen tut weh vom Sachen reindrücken.“ Fiel mir dann noch ein.
„XT41, die liebe Frau neben mir hat mich gebeten, Dir zu sagen, dass sie wirklich alles tun werden, dass Du nie wieder in so einen Schmerzraum gebracht wirst. Es gibt da draussen Menschen, die machen sich ganz viele Gedanken um Dich. Und sie machen ganz viele Dinge, um Euch da herauszuholen.“

Ich zögere immer noch bei dem Gedanken, ob Herausholen dieses Mal etwas gutes bedeutet. War bisher nie so.
„Die Frau möchte, dass ich Dir ganz viel Liebe von ihr schicke, und sie bittet Dich, nicht aufzugeben. Und das sollst Du auch allen anderen sagen, bitte. Gebt nicht auf! Hörst Du?“
Ich weiß nicht, was aufgeben oder nicht aufgeben bedeutet. Aber ich hörte brav und aufmerksam in mich hinein.

„Ich möchte Dir etwas zeigen. Entspanne Dich und achte auf das, was Du jetzt glaubst, zu sehen.“
Ich lag mit dem Kopf wieder auf meinen Vorderpfoten und nach kurzer Zeit merkte ich, wie undeutlich in der Ferne kleine Lichtpunkte auftauchten. Rote Lichtpunkte. Sie standen alle nahe beieinander. So nahe, wie XT42 und ich beieinander liegen , wenn wir ganz dolle Angst haben. Neben den Lichtpunkten waren sie zu sehen. Solche wie im Schmerz-Mach-Raum. Aber anders angezogen irgendwie. Und sie standen irgendwo vor Bäumen oder Büschen, vor einem Tor oder einem Zaun oder so etwas? Und sie sprachen leise miteinander. So traurig wie der Mann, der mich, als er noch nicht in diesem Raum hing, Xtchen genannt hatte.
„Was ist das?“ Fragte ich diese Stimme in mir.
„Das sind Menschen. Die kämpfen um Euch, und um Dich. Sie sind ganz nahe. Manchmal hören sie Euch bellen. Aber sie kommen nicht zu Euch herein. Jedenfalls heute noch nicht. Die Frau, die hier bei mir sitzt, möchte, dass Du das ganz genau weißt. Es gibt Menschen, die Euch nicht wehtun wollen. Die denken sehr liebevoll an Euch. Und sie wollen Euch retten.“

Ich wurde immer müder und träger, und hörte am Ende noch in mir drinnen, wie es nachklang „…und sie wollen Euch retten…“

xt41


Dies ist ein weiterer fiktiver Brief einer Hündin, die im Tierversuchslabor LPT, Mienenbüttel bei Hamburg, gefangen gehalten wird. Alle ihre Briefe findet Ihr hier

Bilder: Copyright Soko Tierschutz e.V./Cruelty Free International