5. Brief von XT41 – Toben und Spielen?

Wir sind heute nicht transportiert worden. Also, ich weiß nicht, was es bedeutet. Aber XT42 und ich sind da, wo wir immer waren. Sie sind am Morgen gekommen und sie haben uns Futter gebracht. Sie haben alles weggemacht, was auf dem Boden war von uns. Wir können ja leider nicht selbst da Erde drüber schubsen, obwohl ich das Gefühl habe, dass ich das gerne machen möchte. Das passiert mir immer automatisch, dass ich solche Bewegungen mache. Aber auf dem glatten Boden rutsche ich dann nur mit den Pfötchen hin und her.

Es war vom Morgen an ein ganz grosses Bellen und Fiepsen und Jaulen hier in der Nähe. Nicht in unserem Raum. Aber da müssen noch viele andere von uns sein. Und ich glaube, manche hatten ganz ganz doll viel Angst. Noch mehr Angst als ich habe, wenn ich an den Schmerzen-Mach-Raum denke.

Die hier rein kommen und rausgehen sind sehr unruhig. Sie riechen anders. Sie sprechen anders. Haben sie auch Angst? Wird uns allen etwas sehr Schreckliches passieren? Mein Herz sagt mir, dass ich sie vielleicht trösten muss, irgendwann, wenn sie Salzwasser in den Augen haben. XT42 kuckt merkwürdig, wenn ich so etwas sage. Sie sagt, dass die uns ja auch nicht trösten, wenn wir sehr traurig sind oder Schmerzen haben. Bis auf den einen. Der mit dem Öhrchen streicheln. Der war so, da hätte ich am Liebsten auch das Salzwasser aus seinen Augen geleckt, als der noch da war, und immer so traurig gekuckt hat, wenn er uns wehtun musste oder dabei war, wenn die anderen von denen uns weh getan haben.

Als es ruhiger war haben XT42 und ich erst durch die Gitter in den langen Gang gelinst.

72768340_959635894383350_7578618876401811456_n

Dann haben wir uns draußen hingelegt. Da ist es nicht kalt. Und es ist eine schöne Luft irgendwie. Viel besser als drinne, wo wir ja alle mal was erledigen müssen und auch wenn die das wegmachen. Es riecht eben doch für unsere Nasen. Ich muss mich immer sehr an XT42 kuscheln. Denn sie darf nicht noch einmal so schwach werden. Denn sonst kommt sie in den Raum, in dem tote Hunde an der Wand hängen, sagt die Hündin vom Nachbarzwinger.

Als ich so an XT42 gekuschelt lag, und ein wenig gedöst habe. Kam sie wieder. Die Stimme. Diese Stimme! Ich habe ganz vorsichtig gelauscht, sogar die Öhrchen aufgestellt ein wenig. Auch wenn Beagleöhrchen sich nicht gut aufstellen lassen.
„XTchen, ist es ok, wenn wir uns ein wenig unterhalten?“ Das war Andreas
Ja, dachte ich mir. Wie immer. Ich sehe nichts, ich rieche nichts, und ich muss auch nicht mit dem Mäulchen antworten, wenn da niemand ist.
„Richtig, XTchen. Du hast es verstanden. Wir sprechen auf eine besondere Weise miteinander.“
So, dachte ich. Zwei mal hell und zwei mal dunkel habe ich nichts gehört von ihm. Und er ist einer von den zwei Einzigen von denen, die ich irgendwie mag. Und warum habe ich so lange warten müssen?
„XTchen, ich verstehe Dich sehr gut. Ich war auch in den letzten beiden Tagen bei Dir. Aber ich habe nicht mit Dir gesprochen. Es kostet Dich viel Kraft. Jedes Mal. Und Konzentration. Und Du hast etwas sehr wichtiges sehr richtig gemacht. Dabei durfte ich Dich nicht stören.“
Das war jetzt sehr kompliziert für eine kleine Beagle-Hündin, die nie etwas anderes gesehen hat als Kachelboden, Gitter, Schmerzen-Mach-Räume und vor den Gittern ein bisschen Grün und unerreichbare Bäume mit einem Zaun dahinter.
„Du hast Deiner Freundin am Wochenende das Leben gerettet, XTchen. Du hast alles richtig gemacht. Du hast dafür gesorgt, dass sie trinkt, obwohl sie zu schwach war, zur Tränke zu gehen. Und Dein Instinkt hat Dir gesagt, dass Du das nasse und zu Dir geneigte Gras hereinziehen musstest, damit sie es fressen kann. Und dann hat sie sich von dem Gift getrennt. Und ich habe auch mitbekommen, dass Ihr zwei Euer Futter mit XT42 geteilt habt, damit sie wieder stärker wird. Du bist eine wunderbare, intelligente, einfühlsame und extrem lernfähige Hündin, XTchen, und ich glaube fest, dass das Menschen hier draußen noch viel Freude machen wird.“
Ich war so überfordert. Jetzt hat auch noch ein Instinkt etwas zu mir gesagt? Gras muss das Grüne gewesen sein, was ich mit der Pfote für XT42 geangelt hatte als es ihr so schlecht ging. Wunderbar kenne ich nicht. Das hat noch nie einer von denen zu einem von uns gesagt. Intelligent auch nicht. Lernfähig sind wir schon. Das stimmt. Wir beobachten sie genau und versuchen, es ihnen recht zu machen. Das klappt nicht oft. Und dann haben wir gelernt, wie wir uns so unsichtbar machen können, wie es in so einer Gitterwohnung geht. Er sagt immer solche Dinge, die ich nicht kenne. Aber er hat eine liebe Stimme. Und falls er nicht ein Traum ist, Dann möchte ich ihn einmal abschlabbern und mich an ihn kuscheln. Und das Sofa, von dem er immer spricht, und die liebe Frau auch.
„XTchen, es war heute sehr laut bei Euch. Aber das ist nicht schlimm. Du musst mir vertrauen. Ich möchte, dass ihr stark bleibt, und auf Euch aufpasst. Seid vorsichtig, seid lieb, nicht schnappen und so. Gebt keinem von denen ein schlechtes Gefühl. Ihr seid noch nicht in Sicherheit. Aber viele Menschen geben sehr viel Energie für Euch. Und sie denken an Euch. Ich weiß, Du kannst sie hören, manchmal.“
Das war alles sehr viel für mich. Irgendwie glaube ich, wenn ich jetzt auf einem Sofa gelegen hätte, dann wäre es noch schöner gewesen.
„Ach, XTchen, entschuldige. Das Sofa. Also diese liebe Frau, ich war bei ihr zuhause. Und es gibt dort wirklich ein Sofa, auf das Hunde dürfen. Konzentrier Dich. Ich zeige es Dir!“
Ich lauschte angestrengt in mich hinein. Aber da war nichts. Aber meine Augen blitzten ein wenig, als ob ich sie zu stark zu drücke. Und dann war da ein Boden. Der war weich. Den konnte ich mit der Pfote vorsichtig herunterdrücken. Und um den Boden herum war es auch weich. Eine Seite weich. Patsch. Noch eine Seite weich. Patsch. Noch eine Seite weich. Patsch… Noch eine Seite, huch, da war nichts. Gerade noch geschafft, ich wäre fast irgendwo hingefallen was ich nicht sehen konnte. Ich zuckte zusammen und schaute mich um. Alles wie immer. Kacheln, Gitter. XT42 am schnarchen. Also kuschelte ich mich wieder an XT42.
„Das, von was Du fast eben heruntergepurzelt wärest, das wird Dein Sofa sein, Xtchen. Sobald Du rauskommst, wird das Dein Sofa sein.“
Ich überlegte, was ein Rauskommen bedeuten könnte. Manchmal ist Rauskommen, wenn wir in eine andere Box müssen, weil die hier mit Wasser spritzen wollen. Manchmal ist Rauskommen auch der Schmerz-Mach-Raum. Das Wort Rauskommen ist nicht sehr schön für mich. Ich seufzte. In unserer Box fand ich es schon relativ sicher. Es ist nur ein Kasten mit Gittern und Kacheln. Aber es ist unser Kasten, unsere Höhle. Natürlich können sie uns immer rausholen, wenn sie das wollen. Aber wir haben sonst nichts, wo wir uns ducken und klein machen können und hoffen, dass uns keiner weh tut. Aus dieser Höhle soll ich für immer rauskommen?
„XTchen. Was ich Dir jetzt sage, du darfst Dich nicht aufregen. Aber es wird Dich ein wenig durcheinander bringen. Schau. Du bist ein Hund. Und normalerweise sind Hunde nicht in solchen Zwingern. Sie wohnen in Häusern bei Menschen. Und sie gehen spazieren. Sie toben, sie spielen. Und das wirst Du auch bald kennenlernen, wenn wir zwei uns vertrauen, und wenn alles so läuft, wie man es gerade versucht. Und so ein Leben möchte die Frau, die mir Dein Bild mitgebracht hat, Dir schenken.“
Bei denen wohnen? Nahe? Ohne Gitter dazwischen? Habe ich dafür nicht zu viel Angst? Also wenn die einfach nur die Hand ausstrecken und schon haben sie mich? Ohne Torknarzen und Metalltürgeklapper? Ich glaube, das würde mich total erschrecken…

So ein Leben möchte einer von denen mir schenken? Das verstehe ich nicht, aber es klingt irgendwie wunderschön. Aber was passiert dann mit XT42?

Toben… Spielen… kenne ich nicht, aber klingt so schön…

 


Dies ist ein weiterer fiktiver Brief einer Hündin, die im Tierversuchslabor LPT, Mienenbüttel bei Hamburg, gefangen gehalten wird. Alle ihre Briefe findet Ihr hier

Bilder: Copyright Soko Tierschutz e.V./Cruelty Free International