9. Brief von XT41 – Brief von Andreas

„Xtchen?“
Die Stimme. Er war hier. Also, seine Stimme war hier. Ich zuckte zusammen. War ich jetzt wieder dort, wo sie mich weggeholt haben?

So viele Dinge waren passiert! Ich war in Sicherheit mit XT42 zusammen. In unserem kleinen Bereich. Wir hatten am Abend sehr, sehr wenig zu Fressen bekommen. Unsere Bäuchlein hatten geknurrt. Und als es wieder hell war, kam dieser Winfried, der uns immer so grob behandelt, und hat jedem wieder so wenig gegeben. Ich glaube, der mag uns nicht. Aber ich weiß nicht, warum, denn wir tun ihm ja nichts.
Als Winfried hinter der Türe verschwunden war, haben XT42 und ich geschaut, wie es draußen so ist. Es war ziemlich dunkel. Und irgendwo, da hinten, hinter dem Zaun, da war ein Tier. Ich weiß nicht, was für eines. Aber es hatte ganz lange und dünne Beine, und als es weglief, hatte es einen ganz hellen Popo. Manchmal hatten wir es schön. Es passierten spannende Dinge vor unserem Gitter.
Als wir hörten, dass die Türe noch einmal aufging, sind wir schnell durch das Loch in der Wand hineingeschlüpft. Wir hofften, dass es vielleicht jetzt richtig viel Futter gibt.
Es war aber kein Futter. Es war diese Frau, mit dem kranken Mann und dem Kind, das nicht mehr in die Schule gehen kann, weil alle wissen, dass ihre Mama eine Tierquälerin ist und es dann immer weint, wenn die das sagen. Ich weiß nicht, was eine Tierquälerin ist. Aber ich weiß, dass ich nicht mag, wenn Tiere oder Menschen weinen. Und ich würde so gerne dieser Tochter die Tränen wegschlabbern. Ich glaube, das würde ich machen. Ich glaube, wir Beagles, wir sind so. Oder ich bin so. Vielleicht hätte ich aber auch ganz große Angst, in die Nähe dieses Mädchen zu kommen. Vielleicht …
Diese Frau und noch ein Mann, der dicke, alte, sind also ohne Futter zu uns gekommen. Dafür standen im Gang fünf komische Kisten.
Der alte Mann hatte eine Liste bei sich, und er sagte, dass er jetzt die Transport-Hunde abhaken möchte. Ich glaube, abhaken ist so etwas wie Namen rufen und dann Ja sagen. Als er damit anfangen wollte, kam noch ein Mann dazu, der, der manchmal längere und leisere Gespräche mit dieser Frau gehabt hat. Und dann hat der alte dicke Mann gesagt:
„XT40“
Sie haben den Zwinger neben uns aufgemacht. Und der reingekommene Mann hat die Hündin, die so heisst, am Nacken gepackt, und irgendwie mit seiner anderen Hand unter ihren Bauch. Der alte Mann hat kurz gekuckt, dann etwas mit seiner Liste gemacht, und gemurmelt: „Ok“
„XT41“
Unsere Zwingertüre ging auf und der eine Mann hat mich geschnappt. Ich wollte noch hinten durch die Klappe rauslaufen. Aber er war schneller: ich habe mich auf den Rücken geworfen und mich ganz, ganz klein gemacht und er hat mich im Nacken gepackt, und nach vorne gezogen. Dann hat der alte Mann zu mir gekuckt, und „OK“ gesagt. Und ich war in dieser Box. Aber die hat immerhin ein Loch zum Rauskucken gehabt. Mit Gittern wie mein Zuhause hat.
„XT42“ sagte der alte Mann. Dann kam ein komisches Geräusch aus seinem Fell, und er hat so etwas wie einen kleinen Napf an seinen Kopf gedrückt und mit sich selbst gesprochen. Dabei ist er immer weiter von den anderen beiden weggegangen.
Ich war ja in meiner Kiste und konnte nicht genau sehen. Aber hören konnte ich. Und die Unruhe zwischen dem Mann und der Frau spüren.
Der Mann zischte: „Die können wir doch nicht rausgeben! Die hat doch aus versehen auch davon gekriegt!“
„Das ist das Einzige, was ich für diesen Hund tun kann. Wir haben so viel Scheiße mit den armen Viechern gebaut und dieser Hund hat eine Chance, und DU wirst sie ihm nicht versauen!“ Die Frau war total verändert. Sie hat mich dabei angeschaut, und XT42 und hatte so feuchte Auge, wie ich bei ihr noch nie gesehen hatte. Aber ich war ja in meiner Kiste und konnte das Salzwasser bei ihr nicht mit der Zunge erreichen.
„Wir kriegen die Fristlose, wenn der erfährt, dass wir einen von den falschbehandelten rausgegeben haben!“ Sagte der Mann.
„Kriegen wir sowieso. Der schmeißt uns alle raus, wenn er uns nicht mehr braucht und bringt seinen Arsch im sonnigen Süden in Sicherheit“ antwortete sie flüsternd.
Die Gittertür ging auf, und sie selbst ging hinein, und schnappte sich XT42. Und schon war die in der Box neben meiner.
„Nutzt Eure Chance, ihr zwei! Euch habe ich am liebsten gehabt. Ich habe noch nie erlebt, dass welche von Euch das hier überleben. Nutzt Eure Chance!“ Sie klang so traurig und zu zart, wie ich sie nie vorher gehört hatte.
„XT42 haben wir schon mal in die Box getan“ hörte ich ihren Kollegen sagen.
Der Dicke war fertig mit dem mit sich selbst sprechen, und machte etwas mit seiner Liste.

„XT43“
Das war die Nachbarin, die mir manchmal Sachen erklärt und schon länger drin ist als ich. Bei ihr genau dasselbe. Auch „OK“ und auch in die Kiste.

„XT44“
Auch diese Hündin wurde aus ihrem Zuhause geholt.

Ich habe schon gewartet, dass die jetzt noch die anderen Nummern sagen. Das haben sie aber nicht gemacht. Sondern sie haben uns in unseren Kisten auf etwas draufgestellt und aus dem Raum geschoben. Die ganze Reihe an den anderen Hunden entlang. Wir hatten alle Angst. Und dachten, wir kommen in den Schmerzen-Mach-Raum. Aber dann sagte die Nachbarin, dass sie das ohne Kiste immer machen. Vielleicht in den Raum, wo tote Hunde an der Wand hängen. Aber auch da gab es noch nie Kisten für den Weg.

Wir standen dann ein bisschen in einem dunkleren Raum. Keine Geräusche. Keine von denen, draußen wurde es heller. Und dann kam ein Mann herein, und hat mit dem einen Kollegen zusammen unsere Kisten nach draußen getragen. Dort sind wir in irgendetwas hereingeschoben worden. Der Kollege hat noch einmal gesagt, dass nur vier Hunde mitkommen sollen, und XT42 müsste auf dem Gelände bleiben. Aber die Frau, die mit der Tochter, hat ihm irgendwie wehgetan. Jedenfalls musste er dann irgendwas mit seinem Fuß machen. Ganz schnell hat die Frau laut eine Türe zu gemacht. Die Türe ist dann noch einmal auf und zu gegangen. Und dann hats nur noch gebrummt.

„XTchen?“ Andreas Stimme. Wo war ich. Ja, ok, ah, in unserem neuen Zuhause. Eigentlich ist das hier wie in unserem alten Zuhause. Wir haben ein „Drinnen“ und wir haben ein „Draussen“ aber wir haben drinnen keine Gitterstäbe, sondern eine normale Türe. Und wir haben etwas sehr Merkwürdiges. Der Boden ist nicht flach. Man kann auf etwas drauf gehen, und noch einmal höher drauf, und dann ist da etwas, was ich noch nie in meinem Leben gesehen oder gespürt habe. Der Boden ist weich. Und wenn ich mich da zusammenrolle, fühlt es sich warm an.

Aber, Andreas, bist Du das?
„Ja, Xtchen, das bin ich. Ich bin froh, dass Du mich bemerkt hast. Ich habe seit vielen Tagen versucht, herauszufinden, wo Du bist, und wie es Dir geht.“
Viele Tage. Seine Stimme klingt irgendwie traurig. Aber auch froh.
„Wie geht es Dir?“ Fragt er mich.
Na ja, Andreas, also, es ist eigentlich wie vorher. Aber es gibt halt hier so etwas Weiches, wo man sich drauflegen kann. Und es gibt hier keine Gitterstäbe wo ich die anderen Hunde sehen könnte. Ich kann hören, dass da welche sind. Aber ich kann sie nicht sehen.
„Aber Du bist gesund! Und ich höre die Geräusche nicht mehr, diese langezogenen, von denen man mir sagte, sie kommen von LKWs auf einer Autobahn. Also bist Du wirklich nicht mehr im Labor, meine liebe XTchen!“ Andreas, hallo, ich bin eigentlich wie vorher. Na ja, manches ist hier anders. Zum Beispiel sind hier andere von denen als vorher. Also die haben andere Sachen an. Und die machen alles viel langsamer. Und eine von denen, die ist nicht so sehr alt, die hat versucht, ob ich es mag, wenn man meine Öhrchen streichelt. Und dann hat sie gemeint „Du arme Maus, was Du wohl alles erleben musstest“ und dann kam sie auch mit ihrem Kopf in meine Nähe. Aber davor habe ich Angst gehabt und habe mich ganz schnell unter etwas geflüchtet und ganz hinten auf den Rücken gelegt und ganz schnell die Lippen geleckt. Ich weiß nicht, warum sie mit ihrem Gesicht so nahe zu mir gekommen ist. Sie hat das dann auch nicht wieder gemacht. Aber später, als sie wieder da war, durfte sie noch einmal meine Öhrchen streicheln. Mehr hat sie nicht gemacht. Aber das ganz lange.
„XTchen. Du musst jetzt keine Angst mehr haben. Ich weiß zwar nicht, wohin sie Dich gebracht haben. Aber ich glaube fest, dass es jetzt alles gut werden wird.“
Andreas, ich möchte Dir so viel erzählen. Aber ich bin so müde. Weißt Du, hier sind so viele Dinge, die ich nicht kenne. Hier sind so viele, die langsam sind, und vorsichtig mit mir. Und hier haben sie auch einen Schmerzen-Mach-Raum. Aber sie sind sehr vorsichtig mit mir gewesen. Sie haben mich festgehalten und am Hals gepikst. Und sie haben mein Halsband mit meiner Nummer abgemacht. Sie haben gemeint, ich bekomme bald einen „Richtigen Namen“. Was bedeutet das alles? Andreas?
„XTchen, das sind alles Schritte in die richtige Richtung. Wenn sie das Schild nicht mehr an Dir haben, dann war das Piksen wahrscheinlich der Chip, den sie Dir eingesetzt haben. Aber ok, das sind alles Dinge, die musst Du nicht verstehen. Aber es sind gute Nachrichten. XTchen, wirklich gute!“
Trotzdem habe ich Angst, Andreas. Immer, wenn diese Türe aufgeht, verkrieche ich mich. Und dann komme ich nur ganz langsam und vorsichtig, wenn diese junge Frau mir die Hand mit Futter hinhält. Aber ich will zurück. Und ich will zurück zu XT42!
„Wie, XT42 ist nicht bei Dir?“
Nein, ich habe XT42 das letzte Mal gesehen, als diese Leute im Labor gestritten haben, ob sie in die Kiste soll oder nicht. Auch wenn ich belle, dann höre ich nicht, ob sie antwortet. Bei mir ist eine von den anderen, mit denen ich nicht viel zu tun hatte bisher. Die hat auch sowas Weiches zum Drauflegen. Aber die döst viel.
„XTchen, das verstehe ich nicht. Ich versuche jetzt, irgendwie, herauszufinden, wo Du bist. Denn die im Labor werden nichts sagen. Vielleicht aber die, die Dir jetzt die Ohren streicheln. Ich würde gerne etwas mir Dir spielen, wenn Du magst?“
Spielen? Ich weiß nicht, was spielen ist. Aber wenn Andreas das mag. Ok
„Leg Dich entspannt hin, XTchen. Ich versuche jetzt, zu sehen, was Du siehst und zu hören, was Du hörst und zu riechen, was Du riechst … „
Na ja, was sehe ich? Ich sehe diese hellen Wände. Fast wie im Labor. Ich sehe eine Türe, wo früher Gitterstäbe waren und daneben noch so ein Loch in der Wand, durch das Leute zu mir reinkucken können. Dann sehe ich diese hohe Dings auf dem meine Decke liegt und unter dem ich mich immer verstecke, wenn ich Angst kriege. Und ich sehe das Loch, hinter dem es nach draußen geht. Und draußen sehe ich eigentlich nur Grün. Und was höre ich? Nichts. Also. Ganz leise bellen da hinten Hunde. Aber ich höre sie viel leiser als vor dem ganzen Durcheinander. Und die Leute halt. Und ich höre, wenn das Fressen kommt. Das kommt hier so in komischen Dingern, die an der Wand festgemacht sind. Die da draußen können die zu mir reinzaubern und rauszaubern, ohne dass sie durch die Türe kommen müssen. Ich rieche irgendwie sehr viel Sauberkeit. So roch es auch früher. Aber hier sind sie wohl mehr sauber. Sobald ich was gemacht habe, wird das genau angekuckt und weggemacht. Und dann machen sie etwas, was sie Desinfizieren nennen. Vielleicht riecht es auch nach neu gebautem Haus, ich weiß es nicht. Das früher roch ein kleines Bisschen muffig, oder, es roch nach vielen Hunden, die vor mir da waren, oder so …
„XTchen, danke für die Bilder, die Du mir gegeben hast. Ich glaube, ich kann mir jetzt vorstellen, wo Du bist. Du bist wahrscheinlich in einer Quarantänestation. Entweder bei der Chemiefirma, die Euch rausgerücken will, oder in einem Tierheim.“
Also ich habe keine Ahnung, was Du mir sagst, aber ich höre einfach gerne Deine Stimme, Andreas. Ich habe ja sonst nichts mitgenommen von dort. Meine Schlafplatte nicht, das Blatt am Zaun nicht, den Baum nicht, an dem ich so gerne irgendwann mal schnüffeln würde …
„Alles Gut, XTchen. Erhole Dich gut. Jetzt muss ich der Frau nur noch die Nachricht überbringen, dass Du Draussen bist.“

Liebe …..
Zunächst die gute Nachricht. Ich habe Kontakt zu XT41 bekommen heute. Es scheint ihr gut zu gehen. Aber es ist alles verwirrend für sie. Einfacher ausgedrückt: Glücklich ist anders.
Auf Deine Bitte hin hatte ich am Freitag versucht, mich mit ihr zu verbinden. Sie hatten mir erzählt, dass Sie gehört hätten, dass einige Hunde wohl abgeholt worden wären.
Ich habe sie nicht gekriegt. Es war, als ob ein Radiosender, der immer auf derselben Frequenz funkt, plötzlich schweigt. Am Wochenende habe ich dann Bilder gesehen, und glaube, dass es XT41 war. Sie wurde am Samstag und Sonntag relativ in Ruhe gelassen. Eine andere Hündin ist bei ihr, aber nicht XT42. Sie scheinen auch kurz durchgecheckt worden zu sein. Allerdings hat man das wohl sehr behutsam gemacht. Erzählt hat sie von nichts. Aber wie gesagt, manchmal sieht man ja durch die Augen des Tieres, mit dem man sich verbindet.
Irgendwann, ich nehme an, am Montag oder Dienstag, hat man ihr dann diese Halskette mit der ID-Nummer abgenommen. Bei der Gelegenheit hat man sie am Hals gepikst, ich nehme an, dass sie jetzt einen Chip eingesetzt bekommen hat. Für mich ein gutes Zeichen. Denn wenn diese Hunde zur Auswertung, also Tötung und Analyse, zum Pharmakonzern gekommen wären, würde man sie nicht ausgerechnet jetzt chippen.
Die Bilder, die ich empfange, zeigen mir eine Art gekachelten Raum. Dort ist so etwas wie eine zweistufige Bank. Unter der oberen Bankhälfte kann man sich zurückziehen. Auf beiden Stufen liegt jeweils eine Decke oder ein Kissen oder so etwas.
Weniger weiß ich dazu, wo das alles sich abspielt. Und es ist zu wenig konkret, was ich fühle, oder empfinde, oder sehe, um Ihnen eine Ortsangabe machen zu können. Auf jeden Fall ist diese Quarantänestation weit weg von allem. Es gibt dort wenige Menschen, wenige Hunde, und keinen hör- oder spürbaren Fahrzeugverkehr.
Mein Gefühl sagt mir, dass sehr nahe fließendes Wasser ist. Und zwar nicht wenig. Ein Kanal, ein Fluss, ich weiß es aktuell nicht.

Die schlechte Nachricht ist, dass XT42 nicht mit ihr zusammen eingeschlossen ist. Sie hört zwar gedämpft andere Hunde, aber sie erkennt XT42 nicht darunter.

Ich würde aber an Ihrer Stelle jetzt nicht den Kopf hängen lassen.
Wer hätte gedacht, dass tatsächlich Hunde dieses Labor lebend verlassen?

Und, wenn ich das Gespräch mit XT41 richtig interpretiere, dann gibt es auch hinter diesen Mauern dort Menschen, die plötzlich ihr Gewissen entdecken.

Möglicherweise kommt auch diese Merkwürdigkeit, dass manche von vier – und manche von 5 abtransportierten Hunden berichten, daher, dass es hier am Ende einen Streit unter dem Personal um XT42 Zukunft gegeben hat.

Ich glaube, wenn Sie morgen Abend bei mir vorbeikommen wollen, dann wird einiges schon viel klarer werden, wenn wir zwei mit Ihr kommunizieren.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Andreas

 


Dies ist ein weiterer fiktiver Brief einer Hündin, die im Tierversuchslabor LPT, Mienenbüttel bei Hamburg, gefangen gehalten wurde. Alle ihre Briefe findet Ihr hier

Bilder: Copyright Soko Tierschutz e.V./Cruelty Free International