7. Brief von XT41 – Sie machen Dinge, die uns vielleicht krank machen?

Irgendwas ist merkwürdig. Entweder wir bekommen immer früher unser Futter, oder es ist immer länger dunkel da draußen. Und der Hund, der sich immer die Pfote einklemmt, ein paar Zwinger weiter, jault jedes Mal, bis er befreit ist. Entweder reißt er so lange daran herum, bis er es alleine schafft, oder einer von denen kommt, und dann tuts entweder ganz dolle weh, oder jemand macht das vorsichtig. Er jault immer und hat Angst. Angst vor den Schmerzen aber auch Angst, angefasst zu werden. Sie haben ihm ein paar mal sehr weh getan. Die Hündin neben unserer Box meint, seine Pfote wäre kaputt. Also, sie hätte gehört, der könnte nicht mehr normal mit der laufen, aber das sei egal, weil wir sowieso alle irgendwann in den Raum kommen, wo die toten Hunde an der Wand hängen. Die andere Hündin, die mit ihr wohnt, meint, sie soll so etwas nicht sagen.

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Und ich gehe sehr früh schon raus, bevor das Futter kommt, jeden Morgen, und freue mich über etwas Neues, was ich vorher noch nie gesehen habe.
Da, wo sonst der Baum ist, und die Büsche, und da hinten der Zaun, hinter dem manchmal welche von denen auftauchen und zu uns schauen, da sieht man gar nichts. Da ist etwas Weisses, das wie Wolken ist. Und das bisschen Gras, was ich vor meinen Gitterstäben sehen kann, ist voller Wassertropfen.
Ich glaube, es muss ein sehr schönes Gefühl sein, mit seinen Pfoten auf Wassertropfen zu tappsen. Vielleicht kann man dieses Gras auch ablecken? Ich vermute, dass das ziemlich interessant schmeckt. Überhaupt sagt etwas in mir, dass mir Wasser ziemlich viel Spaß bringen würde. Wenn draußen Wasser von oben kommt, stelle ich mir immer vor, wie ich darunter hindurch laufe, zu dem Baum, zu dem ich so gerne einmal laufen würde. Ich würde mich dann schütteln, dass ganz feine Wassertropfen von mir weg und in alle Richtungen spritzen würden. Ja, ich glaube, so etwas wäre sicher ziemlich schön.

Die, die uns füttern haben sich verändert. Manchen scheinen wir total egal zu sein. Sie sorgen dafür, dass wir fressen, und dann gehen sie wieder. Sie bringen uns nicht mehr in den Schmerz-Mach-Raum, und sie pieken uns nicht mehr und schauen uns mit kalten Augen in die Schnäuzchen und sagen etwas von Schleimhäuten.

Eine von ihnen ist jetzt immer etwas länger bei uns als früher. Sie und noch einer reden miteinander und ich glaube, sie sind traurig über irgendetwas. Sie sagen, dass es so sinnlos ist, wenn die drüben in dem anderen Raum noch weiter getestet werden. Ich weiss nicht, was getestet werden bedeutet. Aber wahrscheinlich hat es mit dem Schmerzen-Mach-Raum zu tun. Und dann schauen sie zu XT42 und mir. Und einmal hat die Frau gesagt, dass sie eine von uns vielleicht am Ende mitnehmen würde. Der andere hat dann gesagt, dass sie das vergessen kann, weil das sei nicht professionell. Und schließlich seien wir Beagles und keine Kaninchen.

Die Frau hat gesagt, dass sie froh ist, wenn hier alles vorbei ist. Sie meinte, dass sie das hier nur macht, weil ihr Mann krank ist und sie ihrer Tochter etwas bieten möchte.
Ich weiß nicht, was krank bedeutet. Vielleicht tun sie sich auch weh und bringen sich in solche Schmerz-Mach-Räume? Aber wenn sie rein und raus gehen können wie sie wollen, warum laufen sie dann nicht weg? Das würden wir doch auch machen, wenn wir könnten …

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Die Frau mit dem kranken Mann hat dem anderen dann heute Mittag erzählt, dass ihre Tochter in einer Schule von anderen Kindern gesagt gekriegt hat, dass sie wissen, wo die Mama arbeitet. Und dass die Mama eine Tierquälerin ist. Dann ist die Tochter nachhause gekommen und hat sehr geweint.
Ich glaube, es ist schlimm, wenn jemand weint. Und ich glaube, wenn jemand weint, dann könnte ich sehr nützlich sein. Ich könnte vielleicht mit großen Augen kucken, und dann könnte ich mich hinsetzen, und dann vielleicht das Salzwasser um die Augen herum weglecken, damit jemand nicht mehr traurig ist.
XT42 meint, ich sollte nicht so freundliche Dinge denken. Denn diese Mama ist eine von denen hier, die uns weh tun.
Ich weiß nicht genau, was eine Tochter ist. Aber so, wie die Frau von ihr spricht, könnte es ein Welpe sein. Ich habe nie Welpen von denen gesehen. Wahrscheinlich müssen die Welpen von denen sehr schnell von der Mama weg, so wie ich, als ich noch ganz klein war. Und dann sehen die sie nie wieder. Vielleicht ist Schule so eine Art Zwinger für Welpen von denen?
Aber wieso kommt die dann nachhause und weint und so?

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Ich verstehe die Menschenwelt nicht. Meine Welt ist klein, hier, und ich glaube, die verstehe ich inzwischen ganz gut. Ich weiß, wie das mit dem Fressen funktioniert. Ich weiß, wie ich trinken kann, und wie man von Drinnen nach Draußen kommt, ohne sich wehzutun. Ich weiß, wie man mit der Pfote einen Grashalm von Draußen angelt, und dass das ziemlich spannend schmeckt. Ja, und dann weiß ich viele Dinge, die da in den anderen Räumen passieren. Die auch mir passiert sind.
Und dann gibt es da irgendwo eine Frau, die noch ein zweites Hundebett gekauft hat. Ein zweites Hundebett! Hundebett! Diese Frau hat auch ein Sofa. Das ist etwas, das ist überall weich, unten, und an den Seiten, nur an einer Seite nicht, und da kann man runterfallen, wenn man nicht aufpasst.
Und diese Frau will mich haben. Und die hat versprochen, dass sie auch XT42 haben will. Und…

„XTchen?“ Andreas Stimme habe ich jetzt schon einige Tage lang nicht mehr in mir drinnen gehört.
Ja, Andreas, ich denke gerade über das nach, was Du mir das letzte Mal alles erzählt hast. Ich merke, dass ich inzwischen nicht mehr kreuz und quer denke, sondern irgendwas in mir spricht direkt mit ihm.
„Wie fühlst Du Dich? Können wir reden?“
Ja, das tun wir doch schon. Ich freue mich und mein Schwänzchen wedelt hin und her, während ich aufmerksam versuche, in mir drinnen dieser Stimme zu lauschen.
„Die Frau ist wieder bei mir. Sie möchte wissen, wie es Dir geht…“
Ja, die Frau, die mit dem Sofa und so, und die mich auf den Schoss nehmen wollte, wovor ich so eine große Angst habe. Aber sie hat mir versprochen, dass sie das nicht macht, oder? Andreas?
„Ja, niemand wird dich mehr auf den Schoss nehmen, wenn es nicht sein muss, und wenn Du es nicht willst. Versprochen ist versprochen.“
Ich mag seine Stimme.
„Die Frau sitzt direkt neben mir, und alles, was Du und ich kommunizieren, übersetze ich für sie.“
Ok, was auch immer Übersetzen für ein Spiel ist.
„Sie kann nicht so mit Dir sprechen, wie ich es tue. Aber wenn Du bei ihr bist, dann wird sie Dich verstehen, und Du sie auch. Da bin ich ganz sicher!“
Das klang spannend. Also die können miteinander reden, wenn sie sich sehen, zum Beispiel, weil sie im selben Raum sind. Andreas kann mit mir reden, obwohl der nicht mit mir… Ich weiß ja nicht einmal, wo der überhaupt ist. Und diese Frau kann mich verstehen, wenn ich bei ihr bin?
„XTchen. Es ist jetzt nicht wichtig, wie das funktioniert. Manche Menschen können mit Euch kommunizieren, egal wie weit Ihr weg seid. Und andere Menschen kommen dann zu solchen wie mir, wenn sie dabei Hilfe brauchen. XTchen, Ihr da drinnen wisst es nicht, aber es gibt so unheimlich viele Menschen, die wollen, dass ihr dort herauskommt, und zwar schnell, und gesund! Und die Frau, die hier bei mir sitzt, hat sich mit diesen vielen Menschen vor ein paar Tagen getroffen. Sie hat ein Bild von Dir ganz groß gemacht und vor sich gehalten und hat gerufen, dass alle Tiere heraus aus den Laboren sollen. Sie hat mir gezeigt, dass sie sogar in der Zeitung und im Fernsehen war mit dem Bild von Dir.“

Sie sind merkwürdig. Sie treffen sich mit vielen von denen? Das muss ziemlich furchterregend sein. Was sind Labore? Andreas?
„Ah, das Wort kennst Du nicht. Labore sind solche Häuser, in denen Tiere, Hunde zum Beispiel, in denen die eingesperrt werden, weil Menschen etwas herausfinden wollen. Du bist in einem Labor. Und sie testen Dinge an Euch, um herauszufinden, ob die krank machen. Dann meinen sie, zu verstehen, ob diese Dinge für sie selbst ein Problem sind, oder nicht.“
Das, wo wir hier sind. Also das ist ein Labor. Und sie machen Dinge mit uns, die uns vielleicht krank machen, dann wissen sie, ob…
„Genau. Und viele Menschen finden das schlimm, und wollen Euch da herausholen.“

Die Türe zum Nachbar-Raum ging auf, und diese Frau und dieser Mann kamen wieder herein. Der Mann meinte, ob sie das auch gehört hätte, dass der Boss gemeint hätte, sie sollten bloß die Gruppe 4 mit Samthandschuhen anfassen. Die anderen würde man sowieso sezieren, aber die Gruppe 4, die würden sie wohl lebend weggeben müssen, und dann dürfte denen kein Haar gekrümmt werden, damit keiner sagt, dass sie Tierquäler sind.
Ach, sagte die Frau, deshalb ist also der Winfried nicht mehr im Hundehaus. Der ist immer so fies zu den Beagles. Ja, sagte der Mann, der Winfried der macht jetzt die Karnickel.

Die beiden reden jetzt immer bei uns im Raum. Wenn die anderen sie nicht hören. Und ich merke, dass sie uns anders anschauen als vorher. Irgendwie nicht so, wie der eine, der früher da war, und der mich so lieb am Öhrchen gekrault hat, aber nicht mehr so kalt, wie früher alle.
Trotzdem: wir bleiben lieber immer in der Ecke neben dem Loch nach Draussen, wenn sie im Raum sind. Man kann ihnen nicht vertrauen. Und trotzdem laufen wir manchmal schwänzchenwedelnd auf sie zu. Vor- und zurück. Wir sind ja neugierig und wollen vertrauen. Aber dann tut in der Seele wieder etwas weh, und wir erinnern uns an den Schmerzen-Mach-Raum.

„XTchen, Du bist abgelenkt. Aber das ist nicht schlimm. Die Frau hier bei mir möchte nur, dass Du weißt, dass sie es Dir versprochen hat, uns dass sie es halten wird. Sie und alle diese Menschen da draußen, sie versuchen, Euch da herauszuholen. Und Ihr zwei beiden, Ihr dürft direkt bei ihr einziehen.“
Lebend. Er betont das immer so merkwürdig.

Lebend herausholen …
Spielen, Garten, Toben, Gras, ein Baum, eine Höhle graben, eine eigene Höhle

Meine eigene Höhle … Ich verstehe so vieles nicht, aber es fühlt sich einfach so schön an …


Dies ist ein weiterer fiktiver Brief einer Hündin, die im Tierversuchslabor LPT, Mienenbüttel bei Hamburg, gefangen gehalten wird. Alle ihre Briefe findet Ihr hier

Bilder: Copyright Soko Tierschutz e.V./Cruelty Free International